Pia I |
Warmer Beton. Warmer Beton war besser als heißer Beton und besser als kalter
Beton. Heißer Beton bedeutete mittägliche Sonnenhitze ohne einen
Schattenplatz, kalter Beton bedeutete eine kühle, taufeuchte Nacht, in der kein
Unterschlupf zu finden war. Am schlimmsten war nasser Beton und Regen – das
bedeutete Kälte von allen Seiten. Man konnte sich vor ihr nur notdürftig durch
entschlossenes Einringeln schützen, um so, tief in der Fellkugel, die dadurch
gebildet wurde, die Schnauze in einen Rest von Trockenheit und Wärme stecken zu
können.
Pia kannte das alles aus den Erfahrungen der letzten Monate und jetzt gab es
also warmen, trockenen Beton. Im Schatten eines grauen Kastens, um den die
vorbeiflanierenden Menschen einen Bogen machten, sodass kaum Gefahr bestand,
getreten zu werden. Pia wusste das, wie sie inzwischen vieles wusste:
Menschen versammelten sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Stellen und
blieben dort sehr lange, bis sie von anderen Menschen gefüttert wurden, das
heißt, bis verschiedene Futternäpfe auf Podeste in so unbequemer Höhe
gestellt wurden, dass die Menschen auf kleinere Podeste sitzen mussten, um an
das Futter in bequemer Stellung heranzukommen. Menschen waren in vielerlei
Hinsicht schwer zu verstehen – aber auch das wusste Pia schon lange. Sie
wusste, an welchen Futterstellen der Menschen es sich lohnte, vorbeizuschauen,
um den einen oder anderen Happen zu ergattern und wo man sofort vertrieben
wurde. Es hatte einige Zeit mit geduldigen Versuchen gebraucht, das
herauszufinden. Ebenso war einige Übung notwendig gewesen, um zu lernen, wie
man sich verhielt, um einerseits die futternden Menschen nicht zu stören,
andererseits doch von ihnen wahrgenommen zu werden. Pia hatte es in dieser
Disziplin inzwischen zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Und hätte sie
ein Mensch dafür gelobt, wäre sie auch stolz darauf gewesen. Aber um zu loben
brauchen die Menschen ihre Hände und mit denen hielten sie bei der Fütterung
ihren Fressnapf fest, oder seltsame Instrumente. Nun ja - die Happen waren ja
auch eine gewisse Belohnung. Und je besser Pia ihre Sache machte, umso mehr
Happen fielen dabei ab.
Lob mit Händen war eine eigene Sache. Pia liebte es, von Menschen gelobt zu
werden. Der sanfte Strich einer Hand über ihren Kopf, manchmal sogar ein kurzes
Graulen des Nackenfells oder unterm Kinn – aus ihr unerfindlichen Gründen war
Pia süchtig danach. Die freundliche Berührung durch eine menschliche Hand war
etwas völlig anderes, als von anderen Hunden gestupst oder abgeschleckt zu
werden. Pia wusste mit jeder Regung ihres Gefühls, dass Menschen über allem
standen und folgerichtig eine lobende Menschenhand das Höchste der Gefühle
bedeutete. Wäre sie fähig gewesen, sich einen Gott zu erfinden, hätte er
ausgesehen wie ein Mensch. Und er hätte die Eigenschaften gehabt, welche die
Menschen ihrem Gott zutrauten: Freundlich und furchtbar, lobend und zürnend.
Und vor allem: allwissend und allmächtig. Menschen konnten alles, wenn sie
wollten. Außer vielleicht schnell laufen und interessant bellen. Aber von ihnen
kam alles – Fressen, Lob und Zorn. Menschen konnten extrem zornige Götter
sein und Pia fürchtete sich davor. Einige Narben, über denen sich ihr Fell
trotz ihres geringen Alters weiß gefärbt hatte und die feine Spur eines
dünnen Stricks um ihren Hals erzählten von einer Zeit, die Pia bei einem meist
zornigen Menschen verbracht hatte und die erst langsam in ihrer Erinnerung
verblasste.
Pia begriff meist nicht, warum Menschen zornig waren. Bei anderen Hunden
erkannte Pia einen Grund für ihren Zorn. Wenn sie zu weit in ihr Revier
gekommen war zum Beispiel; Menschen jedoch banden sie irgendwo fest, sodass sie
nicht weglaufen konnte und schienen zornig darüber zu sein, dass sie da war.
Hunde stritten sich um einen Knochen. Menschen gaben ihr zwar zu fressen, waren
aber oft trotzdem so zornig, wie wenn etwas Falsches passiert wäre. Pia wurde
immer unsicherer, was sie tun sollte, um nicht immer wieder den Zorn des
Menschen, bei dem sie aufgewachsen war, hervorzurufen. Schließlich begriff sie,
dass dieser Zorn tief aus diesem Menschen heraus auf alles zielte, was ihn umgab
und nichts mit dem zu tun hatte, was sie tat. Daher versuchte sie nur noch, dem
Menschen aus dem Weg zu gehen so weit es ihr Strick zuließ. Der Mann aber
strafte Pia weiterhin für seinen eigenen Zorn. Später traf Pia manchmal auch
Hunde, die grundlos zornig waren. Und Pia roch den Zorn der Menschen, die diese
Hunde begleiteten und der um sie waberte wie ein abscheuliches Parfüm.
Eines Nachts wurde sie von dem Strick, mit dem sie an einer dreckigen, einsamen
Hütte angebunden war, befreit und aus einem schnell weiterfahrenden Wagen
heraus hier auf dem Beton zurückgelassen. Seitdem lebte sie hier. Anfangs, weil
sie aus den ersten Monaten ihres Lebens gewohnt war, dass sie bleiben musste, wo
Menschen ihr einen Platz zuwiesen. Als sich jedoch auch nach mehreren Tagen
niemand um sie kümmerte, blieb sie, weil sie außer der dreckigen Hütte, zu
der sie nicht zurückwollte und die sie wohl auch nicht wieder gefunden hätte,
keinen anderen Platz kannte, zu dem sie hätte gehen können.
Auf dem Beton gab es auch zornige Menschen und Pia hatte gelernt, sie zu wittern
und ihnen auszuweichen. Aber auf dem Beton gab es auch Lob von menschlichen
Händen. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht liefen hier Menschen auf und
ab. Und je später es wurde, umso besser klappte die Übung mit dem Lob. Diese
Übung verlangte wenn möglich noch mehr Fähigkeiten, als die Sache mit den
Happen. Man lief auf dem Betonstreifen auf und ab. Nicht zu schnell. Oder man
setzte sich irgendwo an den Rand und beobachtete die Menschen, die vorbeikamen.
Dazu benutzte man am besten die Nase, weil damit die meisten Auskünfte zu
bekommen waren. Ängstliche Menschen zum Beispiel rochen widerlich. Kinder
rochen meistens sehr gut, waren jedoch ungeschickt beim Loben und viel zu laut.
Denn die Laute waren die zweite Unterscheidungshilfe. Menschen konnten
krächzende, gurgelnde, brummende, fauchende und quietschende Geräusche von
sich geben, von denen Pia sich fernhielt. Und dann gab es angenehm leise,
fließende, summende oder zwitschernde Laute. Wenn dann auch noch der Geruch
angenehm war, folgte Pia diesen Lauten und lief dicht neben oder hinter den
Menschen her, von denen sie kamen. Oft wurde sie ignoriert, manchmal sogar mit
einem Zischlaut oder abwehrenden Wedeln der Hand verjagt. Aber genauso oft,
besonders am Abend von guten Tagen, kam ab und zu eine Hand und lobte sie für
einige Sekunden und Pia genoss das warme Gefühl, für das sie täglich viele
Stunden über den Beton patroulierte.
Zwischen den Stellen mit den Happen und dem Beton war ein gefährliches Gebiet.
Pia hatte erlebt, dass ein anderer Hund auf dieses Gebiet lief und von den
Geräten erfasst worden war, die sich dort schnell bewegten. Der Hund stieß
einen entsetzten spitzen Laut aus, der Pia vor Schreck weit auf den Beton
zurückweichen ließ. Danach blieb der andere Hund an der Stelle liegen, an die
er geschleudert worden war. Sein Winseln, das im Lauf der nächsten Stunde immer
schwächer wurde, war für Pia eigentlich ein Zeichen, zu ihm zu traben und
seine Wunden abzulecken, aber die Angst vor den Geräten war zu groß. Sie
witterte an diesem Nachmittag noch einige Male in die Richtung des verletzten
Tiers und nahm einen Geruch auf, der sie mit einem unerklärlichen Grauen
erfüllte, das sie bis zu jenem Vorfall nicht gekannt hatte. Nicht dass sie um
den anderen Hund getrauert hätte – zu oft war sie von Hunden der Umgebung
bedrängt, verjagt und gebissen worden. Aber sie spürte, dass mit diesem Tier
das Schlimmste, Unfassbarste geschehen war, was überhaupt geschehen konnte -
und dass es ihr ebenso widerfahren konnte.
Danach hatte sich Pia eine Zeit lang nicht mehr in die Nähe dieses Gebietes
gewagt. Aber auf der anderen Seite des Gebietes waren die Futterstellen der
Menschen. Also studierte Pia das Gebiet eine Zeit lang sorgfältig beobachtend
aus sicherer Distanz. Das Gebiet dehnte sich rechts und links unabsehbar weit.
Weiter als das Revier reichte, in dem Pia sich leidlich sicher fühlte. Es war
an der Beton- und der Futterseite begrenzt von niederen Stufen und ab diesen
Stufen musste man sich in Acht nehmen. Von beiden Seiten des Gebietes rollten
geschlossene Wagen, aus denen, wenn sie anhielten, Menschen stiegen und jene
knatternden Geräte, auf denen die Menschen saßen und deren Krach Pia hasste.
Viel später, als sie sich sicher auf dem Gebiet bewegen konnte, jagte sie den
Knattergeräten ab und zu kläffend in einem Scheinangriff hinterher, seit sie
von solch einem Gerät aus mit einem schmerzhaften Fußtritt verjagt worden war.
Einige Zeit nach dem Unfall des anderen Hundes schlich sich Pia also wieder
vorsichtig an die Kante des gefährlichen Gebietes, nachdem sie alles genügend
beobachtet hatte. Zuerst nachts, wenn sich fast nichts regte und zuerst nur
entlang der Kante, ängstlich witternd und horchend, ob sich etwas näherte.
Dann übte sie tastend, zuerst einige Nächte lang und dann bei immer stärkerem
Verkehr auch bei Tag, das Gebiet zu durchqueren, bis es ihr das erste mal
gelang, ohne dass sie auf halbem Weg umkehren musste, weil sie zwischen den sich
schnell bewegenden, stinkenden und laut knatternden Geräten die Orientierung
verlor. Pia hatte nun gelernt, vorsichtig zwischen die am Rand des gefährlichen
Gebiets abgestellten Wagen zu stehen und aus dieser Deckung heraus die Lage nach
allen Seiten zu sondieren. Nachdem sie einen Augenblick abgewartet hatte, an dem
sich in beiden Richtungen kein Wagen oder sonstiges Gerät auf ihre Stelle zu
bewegte, wechselte sie schnell zur jeweils anderen Seite des gefährlichen
Gebietes.
Auf der Seite des Betons, die dem gefährlichen Gebiet gegenüber lag, war
Wasser, das ebenfalls unabsehbar weit nach rechts und links reichte. Nicht das
Wasser, wie es Pia aus Pfützen und Brunnen trank, wenn sie Durst hatte. Dieses
Wasser schmeckte intensiv salzig und roch, besonders an heißen Tagen, nach
Moder und Fisch. Es war viel Wasser, dessen gegenüberliegende Ränder, wenn es
sie denn gab, Pia nicht ausmachen konnte und der Beton fiel in einer senkrechten
Steinmauer über einen Meter tief bis zur Wasseroberfläche ab. Pia war einmal
beim Streit mit einem anderen Hund über die Kante des Betons gerutscht und in
dieses Wasser gefallen. Sie musste einige Zeit an der Mauer entlang schwimmen,
bis sie eine Treppe fand, über die sie wieder nach oben klettern konnte.
Seitdem achtete sie darauf, dieser Seite des Betons nicht mehr allzu nahe zu
kommen und wenn sich dies doch einmal nicht vermeiden ließ, bewegte sie sich
mit großer Vorsicht, um nicht wieder abzurutschen.
Der Hauptgrund, sich der wasserseitigen Kante des Betons zu nähern, war im
Frühling zum ersten Mal aufgetaucht. Schon vorher waren ab und zu schwimmende
Hütten an der Betonkante erschienen und nach einiger Zeit wieder verschwunden.
Die Menschen, die von ihnen an Land stiegen, hatten jedoch meist nicht einmal
einen müden Blick für Pia übrig und oft wurde sie sogar mit Schimpfen und
Tritten verjagt, sodass sie eher Abstand hielt. Im Frühling jedoch wurden die
Hütten immer mehr. Kleinere, fast täglich wechselnde Hütten, die besser
rochen und denen freundlichere Menschen entstiegen, deren Hände Pia nicht nur
ein Streicheln, sondern oft auch Happen spendierten. Daraufhin wurde die
Wasserseite des Betons für Pia immer interessant.
Pia II
Es gab in Lefkas viele Hunde wie Pia. Das hieß nicht, dass diese so groß wie
sie gewesen wären, den gleichen Körperbau oder das gleiche Fell hatten. Sie
rochen auch nicht wie Pia. Aber sie lebten wie sie. Und jeder dieser Hunde hatte
sich einen Platz in der Stadt ausgesucht, an dem er etwas zu essen finden
konnte, wo er sich verstecken oder bei Regen unterkriechen konnte und wo es
nicht so viele Stellen gab, von denen sie vertrieben wurden. So hatte fast jeder
Platz und jede Ecke in Lefkas seinen Hund, manchmal sogar eine ganze Schar von
Hunden.
Manchmal verließen die Hunde ihre Plätze. Sei es, weil es zu heiß wurde, oder
weil es regnete und sich kein geeigneter Unterschlupf bot, oder weil gerade kein
Fressen oder Wasser an ihrem Platz zu finden war. Am Anfang hatte Pia öfter
versucht, das ihr vertraute Gebiet zu verlassen. Aber sie hatte gelernt, dass
sie in vielen Gegenden vertrieben wurde, wo immer sie auftauchte, auch wenn sie
stets vorsichtig ganz nah entlang der Hauswände geschlichen war. Ganz besonders
an den Futterstellen der Menschen war fast immer jemand, der sie mit einem
gezischten „Schchchchch“ oder gar einem Stock vertrieb. Der Stock war das
Schlimmste. In der Hand des Mannes, bei dem Pia die ersten Monate ihres Lebens
verbracht hatte, war fast immer ein Stock gewesen. Stöcke in der Hand von
Menschen taten entsetzlich weh. Pia hasste eigentlich Stöcke. Und Pia hasste
eigentlich auch Menschen mit Stöcken. Aber für Hass reichte ihre Energie nicht
aus, weil ein übermächtiges Gefühl jeden anderen Impuls in ihr überdeckte.
Pia hatte entsetzliche Angst.
Ihre Ausflüge in andere Gebiete der Stadt hatten Pia auch gelehrt, sich vor
anderen Hunden in Acht zu nehmen. Viele Hunde waren durch das Leben auf der
Straße oder durch das Zusammenleben mit zornigen Menschen böse geworden.
Manche bellten bereits von weitem, wenn sie Pia sahen. Das war weniger
gefährlich. Pia war gewarnt und konnte in einem weiten Bogen einen Umweg um
diese Hunde machen, oder rechtzeitig Reißaus nehmen, wenn diese Hunde auf sie
zusprangen. Manche Hunde jedoch tauchten erst auf, wenn es zu spät war. Mit
einem wütenden Knurren fielen sie über Pia her, verwickelten sie in eine
Rauferei und brachten ihr schmerzhafte Knüffe und Bisse bei. Den Grund, warum
diese Hunde so waren, begriff Pia nicht, da sie nie ein Haus mit Menschen gehabt
hatte, zu denen sie hätte gehören können. Sie kannte nur eine dreckige Hütte
und einen Mann mit Stock.
Ganz in der Nähe des Platzes, an dem Pia sich normalerweise aufhielt, gab es
aber einen Hund, der ab und zu bei ihr vorbei kam und nicht bellte oder gar
raufte. Ein kleiner, freundlicher Hund mit einem Halsband, der immer gut nach
Fressen roch und sie so lange auffordernd stupste und um sie herum sprang, bis
sie eine Weile mit ihm auf dem Beton zwischen den Menschen auf und ab tollte. Ab
und zu saßen sie sich dann beide hechelnd und erschöpft gegenüber und nahmen
doch nach kurzer Zeit ihr Spiel wieder auf. Durch diesen Hund ahnte Pia, dass es
noch etwas anderes wie die Strasse geben musste. Einen Ort, wo man bleiben
konnte, wo es immer Futter gab und, das war das Wichtigste, wo immer Menschen
waren, zu denen man gehörte und die freundlich waren – oder einen zumindest
nicht vertrieben. Der kleine Hund kam von einem solchen Ort, Pia roch es und
spürte es. Er war gut genährt, arglos, unaggressiv und verspielt. Und Pia
mochte es immer, eine Weile mit ihm zusammen zu sein, weil es für diese kurze
Zeit fast so war, wie wenn sie selbst einen Ort hätte, an dem sie sein konnte
wie der kleine Hund.