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Heimaturlaub

06. November - 10. Dezember 2004 

 

"Heimat", "daheim", "zuhause" - einige deutsche Politiker versuchen zur Zeit öffentlich ihre von niemandem bestellten Gedanken um eine "vaterländische Debatte" in die Medien zu würgen (was letztere mit pawlowscher Reflexhaftigkeit aufnehmen) - vielleicht in der vagen Furcht, dass diese Begriffe wenig mit dem zu tun haben, was die Politik seit längerem nur noch vorgibt, zu verwalten, und viel mit dem, was ihr per se in der Mehrzahl gänzlich abgeht:  Verbindlichkeit, Verantwortung, Anstand und Feinsinn.

 

Als ob uns Kalamata zum Abschied auf Deutschland einstimmen wollte, waren die Temperaturen am Tag unserer Abreise um einige Grade gefallen. Am Vortag noch bei strahlendem Sonnenschein das letzte Bad im Meer, das Ausruhen am kleinen Kiesstrand unweit des Marinageländes - verweht als Erinnerung in einem immer stärker auffrischenden Wind. Das Wohnmobil war fertig gepackt und so erreichten wir am Abfahrtstag den Hafen von Patras einige Stunden vor dem Ablegen der Fähre. Wir verabschiedeten unsere Seglerfreundin Erika aus der Schweiz, die mit uns gekommen war und deren Fähre erst einige Stunden später ablegen sollte. Dann fuhren wir an Bord auf das von früheren Überfahrten wohl vertraute "Open Deck", wo wir die Überfahrt nach Ancona im Wohnmobil mit Stromanschluß und warmen Duschen recht angenehm verbringen konnten.
Danach stellten wir uns wie bei jeder Überfahrt an das "Open" unseres Decks, das heißt, an die riesigen ovalen Öffnungen in der Außenwand des Schiffs und beobachteten die Siluette der Altstadt von Patras und davor tief unter uns auf den Piers die Autos, Menschen, Schiffe, Lastwagen und was sich sonst noch im Hafenbereich hin und her bewegte. Alles inzwischen fast so vertraut wie der schwäbische Busbahnhof, auf dem ich in meiner Kindheit täglich herumstreunte, bis mich ein Schulbus nach Hause in ein heimeliges Schwarzwalddorf brachte, mit dem mich heute nichts mehr verbindet als ein paar freundliche Erinnerungen. Beim Blick über den Hafen kurz vor dem Auslaufen boten sich nun ein paar Gedanken über "nach Hause" geradezu an und da ich vor Klischees nur bedingt zurückschrecke, überließ ich mich diesen Überlegungen mit dem Resultat, dass mir, wie bereits in den letzten Tagen, beim Gedanken an diese Reise gar nicht so recht klar war, ob ich jetzt "nach Hause" fuhr.
Ist unser Zuhause zumindest zur Zeit doch unser Schiff, auf dem wir leben, reisen, arbeiten. Auf dem Schiff stehen unsere Computer, die ich so gerne mit meinen Ideen füttere, der kleine, aber noch immer wichtige Rest meiner Bibliothek, es gibt einen Funk-Internet-Anschluß für E-Mails und Recherchen, ein paar Freunde und Nachbarn am Steg und nicht zuletzt das Schiff selbst auf dem jeder Schritt, jeder Ausblick und jeder Handgriff vertraut ist; in der Stadt Kalamata die Läden und Institutionen, die bereithalten, was wir täglich benötigen und wo man uns zuweilen wiedererkennt und manchmal sogar mit Handschlag begrüßt.
Ich beschließe, dass "Heimaturlaub" durchaus zutreffend ist als Bezeichnung für unsere Reise. "Heimat" ist ein idealer Ort, den man kennt, wo es ein paar Menschen gibt, die sich an uns erinnern und die mit unseren Erinnerungen verbunden sind. "Heimat" muss wenig oder nichts mit einem derzeitigen Aufenthaltsort zu tun haben. Mit der "Heimat" als Ort und den Menschen, die dort leben haben wir eine längere oder kürzere gemeinsame Vergangenheit, während der wir uns gegenseitig beeinflussen, wobei die "Heimat" mit der Gesamtheit ihrer Bestandteile meist in gewisser Weise im Vorteil ist, weil sie ja oft in der Überzahl ist und wir sind eben nur "wir".
Wir sind keine Politiker, Wirtschaftsmagnaten oder Genies (ist von diesen Spezies überhaupt eine irgendwo beheimatet?) und deshalb liegt das Prägen vielleicht mehr auf Seiten der Heimat und uns bleibt eben ein graduelles Geprägt-Werden. Trotzdem freuen wir uns über jede Spur, die wir bei einer Rückkehr noch von uns vorfinden, von dem, was wir getan und gelebt haben. Auch jede Erinnerung, die wir mit Freunden und Bekannten geteilt, jeder Eindruck, den wir hinterlassen haben und der noch nicht unter all dem, was täglich in unablässiger Reihenfolge neu geschieht, gänzlich begraben worden ist.
Wenn all das einmal verwischt ist, wird auch der Ort "Heimat" nur noch eine leere Kulisse, in der wir umherwandern, lange nachdem wir unsere Rolle darin gespielt haben und irgendwann spricht dann auch niemand mehr über das "Stück", in dem unsere Stichwörter gefallen sind. Natürlich kann auch dann noch unsere Sentimentalität Erinnerungen an Situationen und Menschen heraufbeschwören. Aber dieses "Beschwören" bekommt dann schnell etwas Geisterhaftes, das unseren Gedanken den modrig verstaubten Beigeschmack einer spiritistischen Seance geben würde. 
Wir fuhren von Ancona in die Schweiz zu Seglerfreunden, denen ich letztes Jahr ins Gästebuch ihrer Yacht einen Satz von Hermann Hesse geschrieben habe: "Wo befreundete Wege zusammenlaufen, sieht die Welt für eine Weile wie "Heimat" aus." Vielleicht besteht die Heimat, die wir jetzt besuchen, ja wirklich zuerst aus den Freunden, die dort an verschiedenen Orten wohnen und die Orte und Landschaften sind, nur für sich genommen, eine unbedeutende Plattform. Wir gehen spazieren auf den Feldern oberhalb der Stadt Basel, schauen auf den Rhein, während die Dämmerung hereinbricht und wir zu unseren Freunden zurück in ihre Wohnung wandern. Für ein paar Stunden sind wir hier "daheim", essen, trinken, tauschen Erzählungen und Meinungen aus.
Dann sind wir wieder unterwegs und am nächsten Abend stehen wir irgendwo an einer ruhigen Stelle mitten in der Landschaft mit unserem fahrbaren Häuschen. Wir sind uns recht sicher, dass uns "mitten in Deutschland" niemand ein Arg anhaben wird und so ruhen wir uns warm und geborgen in der Sitzecke aus, vertieft in unsere Lektüre oder eine Plauderei über das am Tag Erlebte. Irgendwo in einer unbekannten Umgebung und doch zuhause.

Am nächsten Tag stehen wir in der Stadt, in der wir über zwanzig Jahre gelebt haben, später vor dem Haus, in dem ich gewohnt habe und das jetzt Menschen bewohnen, die mir nur oberflächlich vom Verkauf des Anwesens her bekannt sind und ich fühle mich für einen Augenblick fremder als in einem nie zuvor besuchten Hafen während unserer Sommertörns. "Zuhause" hat sicher auch etwas damit zu tun, ob man fühlt oder zumindest meint, da oder dort "hin zu gehören", ob es ein persönlich empfundenes Selbstverständnis gibt, das zu dem jeweiligen Ort und der jeweiligen Situation passt – oder eben nicht, oder nicht mehr.

Während unserer Reise durch Deutschland kommen wir an viele Orte, wo Menschen uns erwarten, weil sie sich auf unseren Besuch freuen. Kleine heimatliche Inseln in einer Umgebung, die uns trotz aller Vertrautheit in weiten Teilen zur Zeit weniger angeht als im Sommer das Meer vor unserem Bug. Und doch sind wir dann ganz plötzlich für ein paar Stunden oder Tage "zu Hause", ohne dass dies eine Sache des Ortes wäre. Eher eine virtuelle Heimat aus gemeinsamen Gedanken, Gefühlen und Überzeugungen.
Natürlich gibt es da noch "Deutschland" als ideellen Ort. Ein Land, in dem uns vertraute Rechtsnormen und gesellschaftliche Standarts gelten, uns Sprache und Mentalität der Menschen vertrauter sind als an jedem anderen Punkt der Erde, was die Verständigung auf allen Ebenen ungeheuer erleichtert, zuweilen in wichtigen geistigen Bereichen gar erst möglich macht. Vielleicht sogar die Entdeckung gemeinsamer Werte, auch wenn diese gar nicht direkt erwähnt werden, sondern nur durch das "wie" der geäußerten Meinungen und des Umgangs miteinander durchscheinen. Aber hier beginnen die Grenzen einer Verortung von "Heimat" auch schon wieder zu zerfließen. Wer steht uns näher – ein oberflächlicher Deutscher oder ein nachdenklicher Engländer / Franzose / Grieche / Italiener / Amerikaner?
Wo befreundete Wege zusammenlaufen .... Während wir durch ein frühwinterliches Deutschland fahren und über eine stürmische See zurück nach Griechenland bleibt die Fortführung dieses Satzes als Fazit. "Heimat" ist dort, wo sich befreundete Wege treffen. Viele Wege treffen sich in Deutschland, wodurch wir dort wohl weiterhin zuerst unsere "Heimat" verorten. Aber auch hier in Griechenland, das uns oft so fremd anmutet und auf unserer Reise durch Häfen mit Schiffen aus aller Herren Länder, blitzt doch immer wieder "Heimat" auf, sodass wir wohl nie wieder den Fehler machen werden, unsere mit diesem Begriff verbundenen Gefühle an irgend einem allzu eng gesetzten geographischen Ort festzumachen. Es gibt Orte in Deutschland, die uns Heimat waren und manche Orte durch die Menschen, die dort noch immer leben auch weiterhin "Heimat" sind.
Aber als wir im Herbst nach einer langen Sommerreise in den Yachthafen von Kalamata einliefen und die erste Hand von einem bereits festgemachten Boot aus heftig zu winken begann, war uns auch in diesem Augenblick ganz "heimatlich" zumute.
Vor vielen Jahren äußerte ich, dass ich mich an jedem beliebigen Ort, wo meine Bücher, Instrumente, Werkzeuge und ein paar freundlich gesonnene Menschen sind, zu Hause, ja - heimatlich fühle. Von der Mehrzahl meiner Bücher und Instrumente habe ich mich vor Antritt unserer Reise leichten Herzens getrennt - sie haben ihren Dienst in meinem Leben getan, andere Inhalte und Ausdrucksmittel nehmen ihren Platz ein. Die Assoziation von "Heimat" mit irgendwelchen Gegenständen und Orten hat sich im Laufe der Jahre mehr und mehr relativiert zugunsten geistiger und menschlicher Werte und nicht zuletzt durch die Erfahrungen unserer Reisen wissen Elisabeth und ich, dass zuerst wir selbst, jeder für sich und wir beide zusammen als Paar, in und bei uns "beheimatet" sein müssen. Sind wir das, sind wir es überall, und können mit dem was wir sind, auch anderen Heimat sein; sind wir es nicht, dann sind wir und alle, denen wir begegnen, heimatlos – egal an welchem Ort.

 

zu den Bildern dieser Seite: von "meiner" Telefongesellschaft bekam ich im Gegenzug für meine Bereitschaft, weitere zwei Jahre ihr Kunde zu bleiben, eines dieser neuen Foto-Handys "geschenkt", in der Hoffnung, dass ich nun beginnen würde, sündteure Bildchen per "MMS" zu versenden, was ich tunlichst unterlassen werde. Aber für Momentaufnahmen, die auf einer Chipkarte zu Hunderten gespeichert und hernach über Funk ("Bluetooth") in den Computer übertragen werden können, ist das Gerätchen, das man ja wegen seiner eigentlichen Funktion doch immer irgendwo dabei hat, recht nützlich. Es entstehen dabei keine hochauflösenden Präzisionsaufnahmen, aber gerade das etwas Verwischte, Beiläufige unterstreicht recht passend das "en passant", das Flüchtige des jeweilig festgehaltenen Augenblicks und ist dadurch für diese spezielle Anwendung sogar passender, authentischer und - wenn denn - einer wie auch immer aufgefassten "künstlerischen" Aussage dienlicher, wie eine Präzisionsaufnahme, die unter Umständen eine Situation in optischer Hinsicht detaillierter festhält, als es die eigene Wahrnehmung tut. Im Gegenteil: Der gefühlte Eindruck kommt oft durch diese mehr oder weniger "impressionistische" Darstellung viel besser zum Ausdruck.