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Ein stiller kleiner Hafen mit Wasser- und Stromversorgung. Wieder einmal feiern wir einen Meltemi ab, mittlerweile etwas ungeduldig, da sich vor zwei Tagen ergeben hat, dass wir in diesem Herbst noch einmal komplett vom äußersten Südosten zum äußersten Nordwesten durch die griechischen Gewässer bis nach Korfu segeln werden. 

Am 23. August konnten wir nach etlichen Starkwindtagen den Hafen von Kos wieder verlassen (oben ein Bild der Marina, das erklärt, warum wir lieber im Stadthafen logierten: wir mögen Bootsabstellplätze nicht besonders). Nach einer ruhigen Überfahrt gelangten wir zum winzigen Inselchen Jali (Gyali), das uns mit einem gigantischen Anblick empfing: wie ein riesiges Amphitheater ragt ein weißer Bimsstein-Tagebau über der kleinen Hafen- und Ankerbucht auf:

Wir tasteten uns rückwärts an ein mehrere hundert Meter langes, altes Industriepier heran, das am Stegkopf den sinnigen Namen des Tagebaus preisgab: "Lava". Das Ufer fällt so flach ab, dass ein solch langes Pier notwendig ist, um zu einer Wassertiefe von ca. 2 Metern zu gelangen. Als klar war, dass wir noch genügend Wasser unterm Kiel (1,40m Tiefgang) hatten, legten wir längsseits an. Es war vollkommen still, nichts regte sich und es war niemand zu sehen, den wir hätten um Erlaubnis fragen können. Herrlich klares Wasser und ein weißer Sandstrand luden zum Bade, was wir, nachdem wir angelegt hatten, sofort ausgiebig nutzten. Ansonsten gab es nicht viel, was uns ganz recht war. Ich mag (wie auch bei Reisen mit dem Wohnmobil) solche Plätze, die "eigentlich" gar nicht für Tourismus geschaffen sind. Der Verfremdungseffekt ist recht reizvoll und auch ein solcher Platz hat durchaus ästhetische Qualitäten:

Nach den Menschenmassen in Kos und der Hektik, die Massentourismus zwangsläufig mit sich bringt, war dieser einsame Ort eine wahre Wohltat. Auch unser Bordhund genoss den Platz augenscheinlich und wetzte begeistert auf den Gummimatten des Piers entlang - bisher hatte ich mir unter "Fliegenden Hunden" ja etwas anderes vorgestellt - Pia belehrte mich eines Besseren (rechts). Am Abend legte dann doch noch eine Barkasse an der anderen Seite des Stegs an, ein Geländewagen kam angebraust und dann verließ das (aus der äußeren Anmutung zu schließen) Führungspersonal die Insel, nachdem wir freundlich gegrüßt worden waren. Danach breitete sich wieder Stille über die kleine Bucht.

Beim Abendspaziergang sammelten wir am Strand genügend weich gerundete Bimssteinbrocken, um damit die Hornhaut an unseren Füßen bis an unser selig Ende abrubbeln zu können. Die ganze Insel ist ein riesiger Haufen aus lockeren Bimsbrocken und -Sand. Während wir an einem Hang entlang liefen, löste sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund ein ganzes Feld an Material und ging prasselnd neben uns als kleiner Erdrutsch nieder. Die Arbeiter des Bergwerks wohnen in kleinen verstreut liegenden Betonhäuschen, bei denen angesichts des Untergrunds leicht ersichtlich ist, dass sie nicht für die Ewigkeit gebaut sind. Sie schwimmen mit ihren flachen Fundamenten geradezu auf dem locker verschieblichen Bimssand. Die ohnehin winzige Insel ist an dieser Stelle nur wenige hundert Meter breit, also waren wir schnell auf der anderen Seite und genossen wieder einmal den für diese Breiten prototypischen Sonnenuntergang:

Am nächsten Morgen um sieben Uhr war Schluss mit der Beschaulichkeit. Elisabeth weckte mich mit dem Ruf "Wir müssen weg, da will einer anlegen!". Ich wähnte mich im Halbschlaf noch am geschäftigen Pier in Kos und blaffte daher aus meiner Koje "... soll sich hinlegen, wo er will - wir haben für den Platz bezahlt!". Diese Argumentation verblüffte Elisabeth nur kurz, dann sah sie sich bemüßigt, ihrem Skipper kurz klar zu machen, auf welcher Position er grade große Töne vom Kopfkissen spuckte. Zwei Minuten später hatten wir der kleinen Personenfähre Platz gemacht, die sich eifrig tuckernd näherte, um einige Bergwerksarbeiter abzusetzen. Die Überfahrt zur gegenüber liegenden Insel Nisyros im Süden dauerte grade mal so lange, dass ich in Ruhe vollends aufwachen und eine Tasse Grüntee genießen konnte. Dabei konnten wir ein ganz eigenes Schauspiel beobachten: auf Nisyros gibt es einen noch tätigen Vulkan, der beständig heiße Schwefel- und Wasserdämpfe ausscheidet, die in der Kühle des Morgens kondensierten und eine dicke Haube über die Insel legten:

Für die nächsten Tage war Starkwind aus West mit hoher Welle aus der gleichen Richtung angesagt. Gegen West ist der Hafen Mantraki an der Nordküste von Nisyros gut geschützt, also wählten wir ihn für den nächsten mehrtägigen Stop. Ein freundlicher kleiner Ort, auch im Hafen gab es nette Gespräche von Boot zu Boot. Unter anderem mit einer schwedischen Dreimännercrew auf einem ca. 8 Meter langen "Bötchen". Dieser Ausdruck ist nun absolut nicht negativ gemeint: wir haben oft erlebt, dass die Sympathiewerte der Crew mitunter der Länge des Bootes diametral entgegengesetzt sind. Auch hier war das der Fall. Wir hatten dem Boot einen Platz eingeräumt, indem wir unser Boot etwas zur Seite verholten, was die Mannen leider etwas verwunderte. "Leider", da Zuvorkommen unter Seglern in diesen Breiten sehr oft ein Fremdwort ist, obwohl es doch eigentlich Selbstverständlichkeit sein sollte. Am Ende einer freundlichen Plauderei hatte die Unity eine Einladung nach Stockholm und als die obligaten Visitenkärtchen ausgetauscht waren, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen: der mit dem originellen Bärtchen war "Art Director", der sachliche, die Langmut eines Bernhardiners verbreitende Mensch firmierte als "Managing Director". Auf einem Achtmeter-Boot. Ich mag die Schweden.
Nach zwei Tagen Westwelle (nicht zu verwechseln mit dem seriösesten und kompetentesten deutschen Politiker) wurde es Zeit, wieder auszulaufen. Eigentlich ist Mantraki eher eine künstliche, nach Nord und Ost offene Bucht und Nordwind war mit einem beginnenden Meltemi ab dem übernächsten Tag angesagt. Am Vorabend unserer Abreise fragte Elisabeth mitten in meine Abendtoilette hinein vom Deck aus an, ob wir zwei Passagiere, die die Fähre verpasst hätten, zur Insel Tilos mitnehmen könnten. Ich vertraute blindlings Elisabeths Menschenkenntnis, da ich keine Lust hatte, nackt an Bord zu stürzen und stimmte zu. Am nächsten Morgen standen unsere Passagiere pünktlich zur verabredeten Zeit um kurz vor sieben Uhr am Pier, wir verstauten ihre Rucksäcke und legten ab. Als wir auf Kurs waren, ergab sich eine angeregte Plauderei, bei der sich herausstellte, dass wir eine für die italienische Regierung arbeitende französische Juristin und einen für den gleichen Arbeitgeber tätigen "Economic-Consultant" an Bord hatten. Sehr sympathische freundliche Menschen. Die Unity erhielt eine Einladung nach Rom. Auch wenn bei unserem Aufbruch noch alles ruhig war, wackelte es vor der Nordspitze von Tilos doch noch eine Stunde lang bei einer achterlich einfallenden Welle von ca. einem Meter, was unsere Passagiere jedoch nicht sonderlich störte - nachdem wir uns den üblichen Tätigkeiten während einer Fahrt zugewandt hatten, machten sie es sich so gut es ging auf den Backskisten auf der Heckterrasse bequem und schliefen friedlich. Sieben Uhr war wohl nicht unbedingt ihre Urlaubs-Aufstehzeit. Auch ein knapp hinter unserem Heck vorbeizischender "Flying Dolphin" konnte sie nicht aus der Ruhe bringen.

Musste auch nicht sein: nachdem wir in der ersten Zeit etwas besorgt waren, wenn diese Personenfähren mit hoher Geschwindigkeit wie riesige Wasserinsekten auf uns zu schossen, sind sie uns mittlerweile die liebsten Fähren: sie verursachen fast keinen Schwell, da sie keine Wasserverdrängung haben. Nur die Tragflächen gleiten in geringer Tiefe durchs Wasser und der Auftrieb verursacht nur geringe Wirbel in ihrem "Kielwasser". Im Hafen sieht es wieder etwas anders aus: Die "Dolphins" lassen ihren während der Fahrt oberhalb der Wasseroberfläche "fliegenden" Rumpf zum Abbremsen ihrer beachtlichen Geschwindigkeit teilweise noch während der Fahrt durchs Hafenbecken ins Wasser "plumsen", was dann doch etwas Schwell erzeugt. Nachdem wir die Abschirmung an der Ostküste der Insel Tinos erreicht hatten, verlief die Fahrt wieder friedlich und um die Mittagszeit liefen wir in den kleinen Hafen von Livadia ein. Eine recht energische aber freundliche Dame deutscher Zunge und Herkunft, die auch Herrin der Stromanschlüsse und Wasserhähne ist (weshalb sie von uns den nicht unfreundlich gemeinten Spitznamen "das Wasserhuhn" erhielt), wies uns umgehend einen Platz zu und teilte uns mit, wie der Anker zu werfen sei. So viel Ordnungssinn hatten wir seid der Ostsee nicht mehr erlebt, fanden das aber gar nicht unsympathisch.
Eigentlich dachten wir, da wir für unsere Törnplanung fast einen Monat zu früh waren, dass wir hier jetzt gemütlich verweilen könnten - noch ein Fährtchen zur Insel Symi oder Chalki, nach Rhodos und dann "gemütlich" über die Kykladen zurück nach Kalamata, wenn die MeltemiSaison gegen Ende September abflaut. Denkste. Die Meldung des Deutschen Seglerverbandes über eine neue griechische Steuer für Yachtbesitzer (auf einer Extraseite: Volltext der Information des DSV) erschreckte uns gehörig und hielt uns mehrere Tage mit Internetrecherche und Telefonaten in Atem.  Inzwischen hat sich zwar der Kern der Meldung auf etwas reduziert, was uns wohl nicht betrifft, aber für´s Erste waren wir doch etwas erschreckt, da uns die Handhabung von Verfügungen und Vorschriften durch griechische Behörden mitunter etwas verwirrt. Ein kleines Beispiel illustriert dies vielleicht am besten:

Als wir unsere Reise im Mai 2003 starteten, hatten wir davon gehört, dass es für Sportsegler "irgend so ein Transitlog" gebe, in das man jeweils die Stationen eines Törns mit Amtsstempel eintragen lassen müsse. Weder die Hafenbehörden in Korfu (wo wir noch über einen Monat wegen einer Reparatur lagen) noch sonst eine Stelle wollte aber etwas derartiges von uns sehen. Also segelten wir einfach mal los. In verschiedenen Häfen auf den Ionischen Inseln wurde dann sporadisch eine Hafengebühr kassiert, ein Mal wollte man auch unsere Papiere sehen. Das war´s dann aber. Auch auf unsere gelegentliche Nachfrage wurde abgewunken. Gegen Ende des ersten Törnsommers wollten die Hafenbehörden dann allerdings plötzlich im Hafen von Katakolo (Pelepones) fast unser Schiff "an die Kette legen", da wir dieses ominöse Transitlog nicht vorweisen konnten. Und kein Beamter war zugegen, der im Stande gewesen wäre, uns das Ding nun eben auszustellen. Erst mein energischer Protest und die Unterstützung des örtlichen Chefarztes, der auch Segler ist, verhalf uns zur freien Weiterfahrt. Im Hafen der nächsten Station, Pylos, eilte ich dann aufs Hafenamt, um weitere Scherereien zu vermeiden und wir bekamen nun endlich den Karton im sperrigen Großformat verpasst. Im nächsten Sommer wollte den dann auch hin und wieder eine Behörde sehen, nachdem ich jedoch einmal unaufgefordert auf einem Hafenamt auftauchte und nur irritiert-genervte Blicke erntete, meldete ich mich wirklich nur noch nach ausdrücklicher Aufforderung ("Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst"). Im Herbst wollten wir uns immerhin zu Beginn unseres mehre Monate dauernden Aufenthalts in Kalamata bei der extra in der Marina eingerichteten Hafenbehörde melden. Ein kurzer Blick auf´s Transitlog - nein, das sei jetzt nicht mehr nötig, das Boot sei ja nur 10 Meter lang. Dann eben nicht. Im Frühjahr 2005 starteten wir also "unbestempelt" unsere Ägäistour. Dann wurde es bunt bei der Auslegung und Handhabung der (augenscheinlich nicht nur uns) völlig schleierhaften Bestimmungen durch die diversen Hafenbehörden: Variante 1: niemand interessiert im geringsten, ob wir kommen oder gehen. Variante 2: Irgend ein Mensch in Zivil kassiert irgend eine (von Ort zu Ort stark variierende) Gebühr und Ende - kein Beamter interessiert sich für uns. Variante 3: das Transitlog muss gar nicht mehr vorgezeigt werden, Hafengebühr wird auch keine erhoben, Vorzeigen der Schiffspapiere reicht. Variante 4: Das Transitlog muss nur sporadisch ein Mal pro Monat vorgezeigt werden. Variante 5: Wir sind ein 10-Meter-Boot, bis 10 Meter einschließlich braucht es kein Transitlog.  Variante 6: Wir sind ein 10-Meter-Boot, ab 10 Meter einschließlich muss ein Transitlog geführt werden. Variante 7: Transitlog, Schiffspapiere, Versicherungsnachweis, Crewliste und Pässe sind in jedem Fall sofort nach dem Anlegen (wahlweise: 7b) im Lauf des Tages / 7c) am nächsten Tag / 7d) am Abend vor dem Auslaufen / 7e) unmittelbar vor dem Ablegen) bei der Port Authority vorzulegen. Das alles mit stufenlosen Variationen der Details in loser Reihenfolge. Hierbei ging es nun gegebenenfalls nur um etwas Rennerei und eventuell ein paar Euro Hafentaxe. Bei der neuen Steuer wäre es nun aber um "richtig Geld" (bis zu "zig"-tausend Euro) gegangen. Wir beschlossen spontan, Griechenland noch im Herbst zu verlassen. Nachdem die neue Bestimmung uns nun (hoffentlich) nicht betrifft, haben wir beschlossen, immerhin in diesem Herbst noch nach Korfu zu segeln, um im Frühjahr einen guten Startpunkt für unsere Reise nach Westen zu haben.

Last not least ein paar Zitate aus den Reisenotizen der deutschen "Großfeder" Gehart Hauptmann, welcher Griechenland vor knapp hundert Jahren (1907) bereiste. Amüsant, zu beobachten, wie er zwischen romantisch entrückter Schwärmerei über seine Projektionen (von der die Peleponnes-Fraktion noch heute zehrt) und irritiert ernüchterter Wahrnehmung der ihn umgebenden Zustände schwankte (um nicht zu sagen "taumelte"):
> Ein großes Glasgefäß mit den verschmierten Resten einer schwarzbraunen Fruchtmarmelade steht in unappetitlicher Nähe. Der Löffel steckt seit Beginn der Reise darin. Es ist hier alles schon Asien, bedeutet mich ein Mitreisender.

> Ich bin wieder jung. Ich bin berauscht von schönen Erwartungen, denn ich habe von dieser Insel, so lange ich ihren Namen kannte, Träume geträumt.

> Ein kurzer Gang durch die Straßen von Korfu, der Stadt, zwingt mich, die Bemerkung zu machen, dass hier viele Bettler und Hunde sind.

> Die unvergleichlich Edele unter den Frauengestalten jüngster Vergangenheit, die, nach ihresgleichen in unserem Zeitalter vergeblich suchend, einsam geblieben ist (über Kaiserin "Sissi" von Österreich, die für kurze Zeit auf Korfu ein Häuschen besaß).

> Ein scheußliches, altes, erotomanisches Weib macht unanständige Sprünge in den heiteren Morgen hinein. Sie schreit und schimpft; die Männer lachen, verspotten sie gutmütig. Sie kratzt sich mit obszöner Gebärde bevor sie fortgeht und hebt ihre Lumpen gegen die Spottlustigen.

> Warum will man den Blumen durchaus Eigenschaften von Tieren und Menschen andichten und sie nicht lieber zu Göttern machen?

> Einer dieser Bettler nähert sich mir. Er überbietet jeden sonstigen europäischen Eindruck dieser Art. Seine Augen glühen über einem sackartigen Lumpen hervor, mit dem er Mund, Nase und Brust vermummt hat. Er hustet in diese Umhüllung hinein. Er bleibt auf der Straße stehen und hustet, krächzt, pfeift mit Absicht, um aufzufallen, sein fürchterliches Husten minutenlang. Es ist schwer, sich etwas so Abstoßendes vorzustellen wie dieses verlauste, unflätige, barfüßige und halbnackte Gespenst

> Ich bin hier, um die Götter zu verehren, zu lieben und herrschen zu machen über mich. Deshalb pflücke ich Blumen, werfe sie in das Becken der Quelle, zu den Najaden und Nymphen flehend, den lieblichen Töchtern des Zeus.

> Eine junge Mutter säugt, auf ihrer Türschwelle sitzend, ihr jüngstes Kind und laust es zugleich in aller Behaglichkeit und Naivität. ..... Es ist nicht durchaus angenehm, außer zum Zweck der Beobachtung, durch diese weiße, stauberfüllte Vorstadt zurück den Weg zu nehmen. Unglaublich, wie viele Murillosche Kopfreinigungen man hier öffentlich zu sehen bekommt! Es ist glühend heiß.

> Immer erst, wenn ich auf den Grundmauern dieses kleinen Gotteshauses gestanden habe, fühle ich mich in den Geist der Ahnen entrückt und glaube in diesem Geiste alles ringsumher zu empfinden.

> ....Blick in eine Sackgasse. Dort ist auch ein Abfallwinkel des Hotels. Der elende Müllhaufen übt eine schreckliche Anziehungskraft auf Tiere und Menschen aus. Sooft ich zum Fenster hinausblicke, bemerke ich ein anderes hungriges Individuum, Hund oder Mensch, das ihn durchstöbert. Ohne jeden Sinn für das Ekelhafte greift ein altes Weib in den Unrat, nagt das sitzengebliebene Fleisch aus Apfelsinenresten und schlingt Stücke der Schale ganz hinab. Jeden Morgen erscheinen die gleichen Bettler, abwechselnd mit Hunden, von denen mitunter acht bis zehn auf einmal den Haufen durchstören. Diese scheußliche Nahrungsquelle auszunützen scheint der einzige Beruf vieler unter den ärmsten Bewohnern Korfus zu sein, die in einem Grade von Armut zu leben gezwungen sind, der, glaube ich, selbst in Italien selten ist. Von Müllhaufen zu Müllhaufen wandern, welch ein unbegreifliches Los der Erbärmlichkeit! Mit Hunden und Katzen um den Wegwurf streiten!

> Der Garten der Kirke liegt diesen Nachmittag in einer düsteren Verzauberung. Die blassgrünen Zweige der Olivenhaine rieseln leis. Es ist ein ganz zartes und feines Singen. Von unten tönt laut das eherne Rauschen des Ionischen Meers.

> Unser Wagen wird sogleich von einer großen Menge erbärmlich schmutziger Kinder umringt, die zumeist ein verkommenes Aussehen haben und schlimm husten.

> Düfte von zahllosen Blüten dringen durch dunkle, rauschende Laubgänge und strömen um mich her mit der bewegten Lüft. Es ist herrlich! Der Webstuhl der Kirke braust wie Orgeln: Choräle, endlos und feierlich. Und während die Göttin webt, die Zauberin, bedeckt sich die Erde mit bunten Teppichen.

> .... es werden dabei von armen Leuten Gewinne und Verluste bestritten, die in keinem Vergleich zu ihrem geringen Besitze stehen. Man sucht dieser Spielwut entgegen zu wirken. Aber trotzdem man das stumpfsinnige Laster, sofern es in Kneipen oder öffentlich auftritt, unter Strafe stellt ist es dennoch nicht auszurotten. Macht doch die ganze Bevölkerung gemeinsame Sache gegen die Polizei!

> Das Rauschen hat in mir nachgerade einen Rausch erzeugt, der Natur und Mythos in eins verbindet, ja, ihn zum phantasiegemäßen Ausdruck von jener macht.

> Die ersten Stunden auf klassischem Boden, nachdem wir in Patras morgens gelandet sind, bieten lärmende, unangenehme Eindrücke. Aber trotzdem wir nun in einem Bahncoupé, und zwar in einem ziemlich erbärmlichen, sitzen, saugt sich das Auge an Felder und Hügel dieser an uns vorüberflutenden Landschaft fest, als wäre sie nicht von dieser Erde. Vielleicht lieben wir Träume mit stärkerer Liebe als Wirklichkeit.

> Patras ist, nächst dem Piräus, der wichtigste Hafenplatz des modernen Griechenland. Wir sehnen uns in das unmoderne.

> Mich durchdringt eine staunende Heiterkeit. Der harzige Kiefernadelduft, die heimisch-ländliche Morgenmusik beleben mich.

> Vor den Türen des Waggons spielt sich ein tumultartiges Leben mit allerlei bettelhaften Humoren ab. Ein junger griechischer Bonvivant schenkt einem zerlumpten, lümmelhaft aussehenden Menschen Geld, zeigt flüchtig auf einen der jugendlichen Händler, die allerlei Waren feilbieten, und sofort stürzt sich der bezahlte tierische Halbidiot auf eben den Händler und walkt ihn durch. Noch niemals habe ich überhaupt binnen kurzer Zeit so viele wütende Balgereien gesehen. An zwei, drei Stellen des Volksgewimmels klatschen fast gleichzeitig die Maulschellen. Man verfolgt, bringt zu Fall, bearbeitet gegenseitig die Gesichter mit den Fäusten: alles, wie wenn es so sein müsste, mit größter Harmlosigkeit.

> Hier aber sind Götter und Helden Landesprodukte. .... Des Landbauers Seele war stark und naiv.

> Ein grenzenloses Geschrei, ein Gebrüll, das jeder Beschreibung spottet, empfängt uns am Bahnhof von Athen. .... Ich habe einen solchen Schlachttumult bis diesen Augenblick, der meinen Fuß auf athenischen Boden stellt, nicht gehört. ...

> Der attische Geist erzeugt, wie die Luft eines reinen Herbsttages, in der Brust jenen wonnigen Kitzel, der zu einem beinahe nur innen spürbaren Lachen reizt.

> Ein deutscher Kegelklub betritt, von einem schreienden Führer belehrt, den göttlichen Raum. Man sieht es den hilflos tagblinden Augen der Herrn an, dass sie vergeblich hier etwas Merkwürdiges suchen.

> Und doch glaube ich nicht, dass es viele gibt, die von den Quellen der Berauschung trunken gewesen sind, die wirklich im Parthenon ihren Ursprung haben.

> Ich habe den Felsen des Areopag erstiegen. Zwei Soldaten schlafen in einer versteckten Mulde. Esel schreien; Hähne krähen. Der Ort ist verunreinigt.

> Es ist ein unsäglich entzückender Zustand, zwischen den schwankenden Gräsern auf irgend einem Stück Marmor zu sitzen.

> Im Graben, im Grase, das eine dicke Staubschicht überzieht, liegt, grau wie der Staub, ein todmüder Esel und hebt seinen mageren Kopf mir zu. Kantine an Kantine begleitet die Straße rechts und links in arger Verwahrlosung. Ich bin beglückt, als ich einen tüchtigen Landmann mit zwei guten Pferden, die Hand am Pflug, seinen Acker bestellen sehe, ein Anblick, der in all diesem jämmerlich verstaubten Elend erquickend ist.

> Meinen Sinn zu den Himmlischen wendend, steige ich langsam wieder in das Vergessenheit und Verlassenheit atmende Wiesental: das Tal des Zeus, das Tal des Dionysos und der Chariden .....

> Das Innere der Klosterkirche bietet ein Bild der Verwahrlosung. Die Mosaiken der Kuppel sind fast vernichtet, die Ziegelwände von Stuck entblößt.

> Was mich auf dieser heiligen Straße besonders erregt, ist das Hallende. Überall zwischen den Bergen schläft der Hall. .... Ich stelle mir vor, dass jemand, den eine unbezwingliche Sehnsucht treibt, sich in die untergegangene Welt der Hellenen wie in etwas noch Lebendiges einzudrängen, auf ein besseres Mittel schmerzhaft-seliger Täuschung nicht verfallen könnte, als durch das verwaiste Griechenland nur immer geliebte Namen zu rufen.

> .... ich, der moderne, skeptische Mensch, sogleich von besonderer Weihe durchdrungen ward ....

> Nicht nur die Vasenmalereien beweisen es, dass der Grieche sich in allen Formen des niederen Eros auslebte; ... , die gesunde Blüte frischen und herben Magdtums ...

> ... dieses wärmste und tiefste Mysterium, nämlich das Eleusinische .....

> Und damals wie heute drang, wie aus den Zeiten eines Lustlagers, Gesang und Geschrei herauf aus der Stadt.

> Die wahren Olympier leiden nicht; ...

> ... werden wir an einem kleinen Zigeunerlager vorübergeführt und sehen, auf einer Art Landungssteg, zerlumpte Kinder der, wie es scheint, auf ein Fährboot wartenden Bande mit wilden Sprüngen das Schiff begrüßen.

> .... ekstatische Schmerz- und Glücksraserei.

> Der Lärm des Piräus ist um und unter uns.

> Ich liege, unweit von Kloster Daphni, unter Kiefern, auf einem Berghange hingestreckt.

> Ich liege auf olympischer Erde ausgestreckt.

> Ja, es ward mir noch Höheres vorbehalten!

> Und ich strecke die Arme weit von mir aus und drücke mein Gesicht antaioszärtlich zwischen die Blumen in diese geliebte Erde hinein.

Aus: "Griechischer Frühling", erschienen 1996 im Propyläen-Verlag

Himmel, Himmel, sakradi, do geht er dahin - jetzt brauch i an Enzian und die Sennerin (Wolfgang Ambros, "Watzmann", ca. 1975)